Wie verändert sich die Welt durch Corona?

Corona wird meines Erachtens in absehbarer Zeit nicht gänzlich vorbei gehen. Folglich wird es eine Zeit NACH Corona lange nicht geben. Stattdessen sollten wir uns auf eine langfristige Zeit MIT Corona einstellen.

Die Pandemie wirkt in einigen Bereichen wie ein Beschleuniger von Entwicklungen, die ohnehin im Gang waren. Wie z.B. für die Digitalisierung und Automatisierung von Prozessen. Für den Ersatz menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen. Oder für die Schließung von Bankfilialen. Corona bringt aber auch völlig neue Verhaltensweisen mit sich, die sowohl gesellschaftliche als auch wirtschaftliche Auswirkungen haben. Z.B. die neue soziale Distanz zwischen den Menschen.

Wann verändert sich denn überhaupt menschliches Verhalten? Zunächst ist eine Einstellungsänderung erforderlich. Diese führt aber nur dann auch zu einem veränderten Verhalten, wenn der Mensch daraus einen Nutzen erwartet, der größer erscheint, als die Mühe, eine lieb gewordene Routine aufzugeben. Menschliche Routinen sind sehr starke Kräfte, die nicht einfach verlassen werden. Als es jetzt um eine ganz konkrete potenziell tödliche Gefahr ging, fiel es vielen leicht, ihr Verhalten zu ändern, um sich und andere zu schützen. Die unmittelbare Gefahrensituation ist eine starke Motivation für eine Verhaltensänderung. Gleichzeitig sinkt natürlich diese Motivation, wenn, wie es aktuell zu beobachten ist, die Gefahreinschätzung sinkt. Dann werden alte Routinen schnell wieder angenommen. Das ist auch nichts grundsätzlich Schlechtes, erschwert aber die Durchsetzung nachhaltiger Veränderungen, die wir zwar als notwendig erkannt haben, die aber nicht so akut lebensbedrohlich erscheinen, dass die Motivation für eine deutliche Verhaltensänderung hoch genug ist. Wie z.B. bei den Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels.

Was hat sich nach dem zweiten Weltkrieg geändert, der deutlich elementare Einschränkungen mit sich brachte, als heute Corona? Wir haben in Deutschland ein neues Staatssystem etabliert, internationale Organisationen wie die UNO und die WHO wurden für eine Verbesserung der globalen Zusammenarbeit gegründet. Grenzen wurden neu gezogen. Solche elementaren Veränderungen wird Corona nicht bewirken. Den Drang des Menschen nach „höher – schneller – weiter“ hat selbst der zweite Weltkrieg nicht zum Stillstand gebracht. Im Gegenteil haben die Entbehrungen des Krieges diese Tendenz wohl eher verstärkt als gebremst. Wahrscheinlich wird aber Corona dazu führen, dass die Grenzen des Wachstums und die Nebenwirkungen der Globalisierung gesellschaftlich neu diskutiert werden müssen.

Globale Entwicklung

Die Armut in der Welt wird für einige Jahre wieder zunehmen, nachdem sie in den letzten Jahrzehnten durch die Globalisierung stark rückläufig war. Viele Menschen verlieren durch den Shutdown ihre Jobs. Wenn in den Industrieländern weniger gekauft wird, hat dies auch Konsequenzen auf die Jobs in den produzierenden Ländern.

Wenn die Konsumenten nun verstärkt lokale Produkte nachfragen, um die lokalen Strukturen zu stärken, wird die Deglobalisierung beschleunigt.

Die EU hat in der Krise weiter an Bedeutung verloren. In der Krise haben die Nationalstaaten das Ruder übernommen. Keiner hat mehr an die EU gedacht, die auch nicht über Instrumente zur Seuchenbekämpfung verfügt.

Finanzsystem

Die amerikanische Notenbank hat in dieser Woche angekündigt, die Zinsen sehr lange bei null lassen zu wollen. Daher wird sich die Liquiditätsschwemme, die sich zwar auf den Finanzsektor auswirkt aber nicht in der Realwirtschaft ankommt, wohl noch eine Weile fortsetzen. Gleichzeitig nimmt die Verschuldung vieler Staaten zur Milderung der Corona Auswirkungen ein Ausmaß an, das immer besorgniserregender wird. Die USA haben alleine zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen von Corona kreditfinanzierte Konjunkturprogramme in Höhe von 2,7 Billionen Dollar beschlossen. Auch die Programme der EU werden inzwischen in Billionen bemessen, nicht mehr in Milliarden.

Die zusätzlich aufgenommenen Schulden durch Corona erhöhen die Wahrscheinlichkeit für einen weltweiten Finanzkollaps. Dadurch dass die Staaten Liquiditätsengpässe der in Schwierigkeiten geratenen Unternehmen beseitigen, werden Strukturreformen verzögert und auch Geschäftsmodelle mit der Gießkanne verlängert, die nicht zukunftsfähig sind. Die Zentralbanken kaufen mit frisch gedrucktem Geld inzwischen auch Anleihen von Unternehmen ohne Investmentgrade, was die Ausfallrisiken entsprechend erhöht. Der Begriff von Zombiunternehmen, die eigentlich tot wären, aber künstlich am Leben erhalten werden, macht die Runde. 

Durch den weltweiten Shutdown ist die Nachfrage nach Öl in einem nie gesehenen Ausmaß gesunken. Durch die stark gefallenen Ölpreise gerät die US Frackingindustrie in große Rentabilitätsprobleme. Anleihen in dreistelliger Milliarden Dollarhöhe sind gefährdet. Gleichzeitig führen die geringen Ölpreise zu gesunkenen Benzinpreisen an unseren Tankstellen, was wiederum den Umstieg auf Elektromobilität verzögert.

Arbeitswelt

Homeoffice wird für viele eine Option bleiben. Nach einer Umfrage des Fraunhofer Instituts schätzen 55% der befragten Heimarbeiter ihre eigene Produktivität als höher als im Büro ein. Wenn Kinder unter 12 Jahren im Haushalt leben, wird die eigene Produktivität allerdings als geringer als im Büro eingeschätzt.

22% der im Homeoffice Arbeitenden hat sich dafür ausgesprochen, dauerhaft im Homeoffice bleiben zu dürfen. Die meisten würden gerne einen oder zwei Tage im Homeoffice arbeiten und doch überwiegend im Büro. Durch die Tendenz zum Homeoffice sinkt die Nachfrage nach Büroflächen. Die Anforderungen an die Gestaltung von Wohnungen müssen sich daran orientieren, auch Arbeitsflächen zu berücksichtigen.

Recht neu sind Meetings per Hologramm und in der virtuellen Realität, die Konferenzräume abbilden. Ob sich diese gegenüber Videokonferenzen durchsetzen, glaube ich zwar nicht, da der Zusatznutzen gegenüber Videokonferenzen begrenzt ist, aber die Technik ist eindrucksvoll.

Mobilität, Transport und Tourismus

Es wird in den nächsten Jahren deutlich weniger gereist. Sowohl geschäftlich als auch privat. Für die CO2 Emissionen mag das gut sein, gesellschaftlich ist es nicht gut, da Reisen das Verständnis zwischen den Völkern verbessert und zur Friedenssicherung beiträgt.

Der Tourismus könnte aber insgesamt sanfter, langsamer und ökologisch verträglicher werden.

Der Hamburger Hafen wird noch länger unter gesunkenen Transportvolumina leiden. 

Das Fahrrad geht gestärkt aus der Krise hervor. Lastenfahrräder und auch eBikes boomen.

Gesellschaft

Für die Risikogruppen wird soziale Distanz die neue Normalität bleiben, während die Anderen sich wieder annähern. Soziale Distanz bedeutet ständiges Abstandhalten, Maskentragen und die latente Skepsis, wie weit ich mich meinem Gegenüber körperlich nähern darf. Dies differenziert die Gesellschaft in die Unbeschwerten, die zurück zur Nähe kehren und diejenigen, die dies noch lange nicht können.

Abgesehen von den psychologischen Auswirkungen auf den Menschen, müssen viele Geschäftsmodelle längerfristig auf soziale Distanz eingestellt werden. Hierzu ist die Möglichkeit zur kontaktlosen Leistungserbringung wichtig, bzw. ein Wettbewerbsvorteil. Kontaktloses Bezahlen hat z.B. stark gewonnen.

Aktuell können wir eine Rückbesinnung auf die Familie, Freunde, Haus und Garten beobachten, die wahrscheinlich auch noch länger anhalten wird. Was für die einen ein Segen ist, stellt sich für andere als Fluch heraus. Richard David Precht hat sich kürzlich in einem Interview erstaunt darüber geäußert, wie viele Eltern es nicht gut mit ihren Kindern zuhause aushalten. Homeoffice führe auch zu Eheproblemen. Daher werde sich wohl durch Corona eher die Scheidungsrate erhöhen als die Geburtenrate. So Precht. 

Nachhaltigkeit, Umweltschutz

Man liest in diesen Tagen viel darüber, dass bei den staatlichen Rettungsprogrammen darauf geachtet werden muss, dass Investitionen in umweltfreundliche Geschäftsmodelle gefördert werden. Die Rettungsprogramme sollen auch eine Lenkungsfunktion einnehmen. Und das ist auch bitter nötig: Nach der kürzlich erschienenen Trusted Brands Studie nimmt z.B. die Neigung, ein Elektroauto zu kaufen, bei potenziellen Neuwagenkäufern aktuell eher ab. Was tun, wenn man das Ziel politisch möchte, sich die Konsumenten aber nachhaltig verweigern? Die in vielen Studien geäußerten Absichten der Bevölkerung für Verhaltensänderungen hinsichtlich des Umweltschutzes stehen in einem hohen Gegensatz zum tatsächlichen Verhalten. Der Wunsch nach Nachhaltigkeit ist zwar hoch. Als es in der Krise um die eigene Versorgung ging, war auf einmal wieder jede Plastikverpackung egal. Die Stadtreinigungen berichten von einem starken Anstieg des Plastikmülls. Es bleibt auch mit Corona dabei: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“.
Insofern ist hier tatsächlich staatliche Regulierung unverzichtbar.

Die vielen Fälle von Corona in den Schlachthäusern der Republik richten das Augenmerk auf die traurigen Hintergründe, warum unser gigantischer Fleischkonsum zu so geringen Preisen zu haben ist. In der Fleischindustrie wird gerade offensichtlich, mit welchem Preis wir billiges Fleisch zu Lasten von Tier und Mensch erkaufen. Das Aufdecken solcher Missstände und die öffentliche Empörung darüber werden dazu führen, dass sich die Arbeitsbedingungen verbessern müssen und vielleicht sogar, dass weniger Fleisch konsumiert wird. Innovativer Fleischersatz wie z.B. von Beyond Meat ist auf dem Vormarsch. Corona wirkt auch hier beschleunigend.

Medizin

Digitalisierung in der Medizin und Telemedizin mit Videosprechstunden, z.B. für Psychologen werden sich etablieren.

Künstliche Intelligenz wird in der Diagnostik verstärkt eingesetzt. Die Masse an Tests wäre mit menschlicher Diagnostik nicht durchführbar.

Die medizinische Forschung wird gestärkt. In Prävention wird erheblich investiert, denn Corona wird nicht die letzte Pandemie der Menschheitsgeschichte sein.

Die globale wissenschaftliche Zusammenarbeit in der medizinischen Forschung wird gestärkt. Es wurde erkannt, dass der globale Austausch von Forschungsergebnissen in Echtzeit Erfolge beschleunigt. 

Konsumentenverhalten

Wir erleben eine Deglobalisierung bei systemrelevanten Produkten. Lebenswichtige Güter wie Medikamente oder Schutzausrüstungen werden wieder mehr lokal produziert, um sich unabhängiger von China zu machen.

Nach einer Studie von Forrester Research ist der Onlinekauf von Produkten stark gestiegen. Erstens haben viele Menschen, die vorher noch nie online gekauft hatten, diesen Weg in der Krise für sich neu entdeckt und darüber hinaus haben 50% der Onlinekunden Produkte online bestellt, die sie vorher nur stationär gekauft haben. Insbesondere der Online Weinhandel hat profitiert, da erstens in der Krise mehr getrunken wird und zweitens fiel der Alkoholkonsum in Kneipen, Hotels und Restaurants weg, so dass erheblich mehr zuhause konsumiert wird.
60% der Befragten geben an, dass ihnen stationäres Einkaufen unter den neuen Bedingungen keinen Spaß mehr macht. Daher werden zwar Bedarfskäufe getätigt, aber sehr viel weniger Spontan- oder Lustkäufe mit den entsprechend dramatischen Auswirkungen auf den stationären Einzelhandel.

Immerhin bekommt Qualität einen höheren Stellenwert. Schrott wird weniger relevant.

Bisherige Toplagen in Innenstädten verlieren an Attraktivität. weil die Kundenfrequenzen weiter sinken.

Baumärkte boomen. Coronabedingte Kurzarbeit und Homeoffice führen dazu, dass sich mehr um Wohnen und Gärten gekümmert wird.

Zum Onlineshopping gibt es aber auch eine Gegenbewegung. So haben 20% der Onlinekäufer in einer Studie angegeben, gezielt vom Onlineshopping umzusteigen auf lokale stationäre Geschäfte. 

Perspektive

Das Wort Krise bedeutet Entscheidung. Wir befinden uns jetzt an einem Punkt, wo wir die negativen Folgen von Corona recht gut einschätzen können. Wir sollten aber in Kenntnis dieser Auswirkungen intensiv darüber nachdenken, woraus sich jetzt Perspektiven ergeben, die Welt zu verbessern. Was können wir zum Positiven ändern? Das Momentum für echte Veränderungen ist gerade gut. Wir haben gesehen, dass eine internationale Zusammenarbeit und ein internationaler Wissensaustausch bei gleichzeitig national bis regionalem Ergreifen von Maßnahmen durchaus ein Modell ist, das funktioniert.

Verschwörungstheorien boomen. Viele haben schon oder werden noch ihre Existenz verlieren und sind wütend. Die aktuellen Debatten um Rassismus, Umwelt, Gleichberechtigung und Staatsverschuldung zeigen, dass wir systemische Verbesserungen benötigen, die auf unserem bewährten Wertekodex aufbauen, an dem sich auch durch Corona nichts verändert hat.

Mathias Horx sieht in Resilienz zukünftig eine elementare Management Aufgabe. Resilienz bedeutet, Organisationen so flexibel aufzustellen, dass sie sich auf schnell ändernde Rahmenbedingungen einstellen können. Damit wird Resilienz zu einem Wettbewerbsvorteil in sich verändernden Märkten.

In „Der achte Tag“ von Gabor Steingart habe ich kürzlich gehört, dass die Veränderungen durch Corona nicht sehr groß sein werden, da die Routinen der Menschen zu stark seien. Veränderungen müssten daher nicht gegen die Gewohnheiten der Menschen sondern mit ihren Gewohnheiten erfolgen. Die Macht der Kontinuität sei groß. Wenn aber viele Menschen kleine Änderungen kontinuierlich mittragen, können dabei am Ende große Veränderungen entstehen.

Ich habe die Hoffnung, dass Corona dazu beiträgt, dass wir aus unseren Fehlern der Vergangenheit lernen. Wir Menschen haben noch immer aus Krisen kreative Lösungen entwickelt. Das stimmt mich zuversichtlich.